Es ist jetzt ungefähr 10 Jahre her, dass Enzo und ich, Mona, von Deutschland nach Bulgarien ausgewandert sind. Enzo, in Bulgarien geboren, lebte fast 25 Jahre in Deutschland, wo wir uns auch kennenlernten. Zusammen besuchten wir Bulgarien einige Male und diese wunderschöne Natur in ihrer ursprünglichen Art faszinierte mich. Schon bald darauf stand unser Entschluß fest: Wir wandern aus!
Es dauerte nicht lange und es kam, wie es kommen musste: Wohin wir uns auch bewegten, immer wieder trafen wir unterwegs auf Straßenhunde - ein Bild, das man in Deutschland gar nicht kennt. Weder Enzo noch ich waren zu diesem Zeitpunkt auf das Ausmaß dieser Situation vorbereitet.
Als Enzo seinerzeit nach Deutschland ging, gab es ganz einfach keine Straßenhunde! In dem damals sozialistischen Bulgarien hatten die Behörden ihre eigene Regel, die auf den Punkt gebracht, lautete: “Es dürfen gar keine Haustiere gehalten werden!” Sollte es doch einmal ein Haustier gegeben haben - wurde es beseitigt!!!
Aber schon viele Jahre davor wurde jeder, der nach 1945 einen Hund besaß, als "Kapitalist" bezeichnet. Und die Kapitalisten waren Feinde des Volkes und des Staates. Wer sich um Hunde kümmerte, wurde somit sogar als "Feind" angesehen und nicht selten sogar angezeigt. Bereits zu diesem Zeitpunkt wurde es sehr gefährlich für Tierfreunde, einen Hund halten... . Aber, ist es nicht seltsam, dass die Geschichte der Straßenhunde Bulgariens in nicht einmal einem einzigen Buch beschrieben wurde? Zumindest ist uns kein solches Buch bekannt...
Aber es gab sie auch schon damals, die echten Tierfreunde!!! Und es gab eine einzige Möglichkeit, die einem Bulgaren gestattete, einen Hund zu besitzen: Wenn er ein Jäger war! Und tatsächlich war die Tierliebe einiger Bulgaren so groß, dass sie einen Jagdschein machten, nur um sich damals schon offiziell einen Hund halten zu dürfen... um auch mal über etwas Positives zu berichten!
Nach der Wende 1990 eiferten die Großstadtbewohner Bulgariens den westlichen Europäern nach und stürzten sich regelrecht in den Kauf von Rassetieren, der Verkauf z.B. von “Deutschen Schäferhunden” boomte wie verrückt und es ließ sich schnelles Geld damit verdienen. Ein “guter” Bulgare hatte sich mit einem Rassetier zu schmücken - ob Rotweiler oder Dobermann, alles war eine Frage des Prestige; Hauptsache Stammbaum! War man sich des Tieres überdrüssig, wurde es auf der Straße ausgesetzt - wo es sich unglaublich schnell vermehrte. Da das Volk auch keine echten Kenntnisse über Hunde und Katzen besaß, wurde Bulgarien aus dieser Unkenntnis heraus von einer wahren “Hunde- und Katzenschwemme” überflutet. Die Menschen waren schlichtweg einfach überfordert, dem Einhalt zu gebieten! Nach der Wende dauerte es auch noch sehr lange, bis das erste bulgarische Tierschutzgesetz verfasst und die ersten Tierschutzorganisationen entstanden.
Die Dorfbewohner wiederum, konservativ in ihrem Denken, bedienten sich kostenlos an den freilaufenden Hunden, die nun plötzlich an jeder Ecke zur Verfügung standen. Ihnen war nicht wichtig, ob sie einer bestimmten Rasse angehörten; sie hatten schließlich nur eine Aufgabe zu erfüllen: An die Kette gelegt zu werden und ihr Hab und Gut zu beschützen. Entsprach so ein Streuner nicht ihren Vorstellungen, weil er vielleicht nicht laut oder oft genug bellte, wurde er eben wieder, im günstigsten Fall, zurück auf die Straße gebracht und gegen den nächsten Streuner ausgewechselt. Eine schlimme Situation kann noch viel schlimmer werden, wenn man dem Tier zur Unwissenheit, noch nicht einmal den Hauch eines Mitgefühls, entgegenbringt: Die Situation eskalierte und die Population der Straßenhunde schoss in unvorstellbare Höhen, die schon damals selbstverständlich durch Kastrationen hätte eingedämmt werden können.
Bis zur Wende war auch die Religion in Bulgarien verboten und es ist wahrscheinlich nachvollziehbar, dass danach ein jeder Bulgare seine Ehrfurcht und seinen Respekt gegenüber Gott ausleben wollte. Ganz besonders den Dorfbewohnern war es wichtig, ihre Frömmigkeit und Liebe zu Gott unter Beweis zu stellen. Gott war auf einmal in aller Munde und selbst die menschliche Unwissenheit wurde mit "dies ist Gottes Wille" erklärt. Und ein "guter" Bulgare würde doch niemals in Gottes Handwerk pfuschen, denn genau das wäre eine Kastration: Man würde sich gegen Gottes Willen aussprechen! Für viele Bulgaren noch heute: Undenkbar!!! Auch wenn es darum geht, ein Tier von seinen schrecklichen Leiden zu erlösen, wenn es gar keine Chance mehr hat... so ist dies noch immer in den Augen einiger Bulgaren eine "Versündigung gegen Gott"! Und wir sprechen hier nicht nur von Dorfbewohnern, sondern auch von einigen bulgarischen Tierärzten oder sogenannten Tierschützern!!!
Paradoxerweise sehen es diese Menschen als keine Einmischung in Gottes Willen, wenn sie unerwünschten Nachwuchs ertränken, erschlagen, vergiften oder einfach aussetzen und sich selbst überlassen.... An dieser Stelle sei uns allerdings die Bemerkung gestattet, dass in der bulgarischen Bevölkerung schon der Prozess des Umdenkens begonnen hat. Natürlich betrifft dies nicht jeden einzelnen Bulgaren, aber es gibt so manche positive Entwicklung.
Als wir nach Bulgarien gekommen sind, verging kein Tag, an dem wir nicht Straßenhunden in jeder Altersklasse begegnet wären! Egal, wo wir uns befanden: Ob in einem entlegenen kleinen Dorf, im Zentrum einer Großstadt oder auf den langen Straßen dazwischen - der Straßenhund in Bulgarien war immer präsent! Oftmals fanden wir überfahrene Tiere vor, die einem Autounfall zum Opfer gefallen waren - und grausamerweise vielleicht schon seit Tagen um ihr Leben kämpften…
Ob wir wollten oder nicht, ich wollte - Enzo nicht, ich musste diesen Hunden helfen! Fortan, wenn wir mit dem Auto unterwegs waren, saßen nicht nur wir darin, sondern es fuhr auch immer ein großer 15 kg Sack Hundetrockenfutter, Katzentrockenfutter, sowie etliche Dosen Nassfutter mit. Wenigstens konnten wir die Tiere so regelmässig mit Futter versorgen!
Lernfähig, wie Enzo war, stoppte er das Auto inzwischen auch tatsächlich sofort, wenn ich “STOPP” rief! Er hatte schnell gemerkt, dass es ihn viel weniger Zeit kostete, den Wagen sofort anzuhalten, als erst Hunderte von Metern weiterzufahren, dann nach einer Möglichkeit zu suchen, den Wagen zu wenden, zurückzufahren, mich rauszulassen um die Hunde zu füttern, den Wagen erneut zu wenden, um dann endlich den ursprünglichen Weg fortsetzen zu können… ;)
Enzo lernte mich immer besser kennen und als wir einen Obst- und Gemüsemarkt besuchten und ich dort eine Frau entdeckte, die lebende Weinbergschnecken (in Bulgarien leider noch immer sehr verbreitet) verkaufte, musterte mich Enzo schon sehr misstrauisch (wir essen beide kein Fleisch ;)). Spätestens zu dem Zeitpunkt, als mich die Frau fragte, welche Tüte Schnecken ich haben möchte und ich der Frau freudestrahlend erklärte: “ALLE!”, verdrehte Enzo nur die Augen. Selbstverständlich fuhren wir anschließend direkt zu einem wunderschönen Fleckchen Natur, weit weg von menschlicher Zivilisation. Ihr ihnen zugedachtes Schicksal, nämlich in einem Topf kochendes Wasser geworfen zu werden, hatte sich nachhaltig gewendet und wir entließen alle Schnecken in die Freiheit.
Dann trat Lizzy in mein Leben! Lizzy sah ich das allererste Mal nur aus dem Augenwinkel - und ich war entsetzt! Enzo hatte keine Möglichkeit, den Wagen sofort zu wenden und bis wir wieder an dem Parkplatz eintrafen, war der Hund, den ich zu sehen gemeint hatte, nicht mehr dort. Anders ausgedrückt: Es war ein schwarz-weißer Hund dort, aber er hatte kein Blut am hinteren Bein und humpelte “nur” etwas…. ich musste mich getäuscht haben, Gott sei Dank!!! Ich war beruhigt, Enzo war erleichtert und wir setzten unsere Fahrt fort…
Am nächsten Tag fuhren wir erneut an diesem Parkplatz vorbei und mir gefror das Blut in den Adern: Ich sah den Hund, den ich bereits am Vortag gesehen hatte! Zu meinem Entsetzen hatte ich mich nicht geirrt und es gab ihn doch! Dennoch gab es einen frappierenden Unterschied zu gestern: Das Bein, das gestern hinten noch blutend “geschlackert” hatte - es fehlte nun!!! Selbst Enzo erkannte die Notwendigkeit und hielt den Wagen ohne Aufforderung an. Aber bevor ich den Hund erreichen konnte, war er schon zwischen vielen Büschen verschwunden! Ich hatte keine Chance! Alles, was ich tun konnte, war Futter dort zu lassen… Ich war verzweifelt.
Tagtäglich fuhren wir nun zu dem Parkplatz. Die Hündin, die ich Lizzy getauft hatte, ließ sich nicht anfassen, sie beäugte uns so mißtrauisch von weitem, dass ich mich wirklich fragte, ob sie das Opfer eines Autounfalles geworden war oder ob ein Mensch sich an ihr vergriffen hatte… Wir waren neu in Bulgarien und kannten leider nicht die richtigen Tierärzte :( Die verschiedenen Tierärzte, die wir aufsuchten und um Hilfe baten, sagten immer nur, "wir sollen Lizzy in die Praxis bringen", niemand war bereit, zu Lizzy nach draussen zu kommen… Nicht ein einziger…
Die Zeit ging ins Land, die Wunde an Lizzys Stumpf verheilte und eines Tages geschah ein Wunder: Von einem Tag auf den anderen ließ sich Lizzy auf einmal von mir anfassen!!! Sicher, nur mit einem Finger erst einmal und mit ausgestrecktem Arm - aber wenn das kein Fortschritt war!!! Und von da an ging es steil bergauf! Lizzy kam, sobald sie unseren Wagen hörte, förmlich angestürzt, sprang wie ein kleiner Derwisch um uns herum und flippte vor lauter Freude komplett aus! Ab diesem Moment durften wir wirklich alles mit Lizzy machen, sie war unglaublich lieb, sanft und sooo dankbar!!! Wir stellten Lizzy verschiedenen Tierärzten vor, die alle der Meinung waren, dass die Wunde super verheilt und nicht behandlungsbedürftig sei….. selbst ich als Laie konnte sehen, dass dies nicht so war - und war da ganz anderer Meinung… :(
Ich liebte diesen Hund von ganzem Herzen, aber ich befürchtete, dass ich ihr hier in Bulgarien niemals gerecht werden könnte - und versuchte Kontakt zu verschiedenen Tierschutzorganisationen aufzunehmen, zu bulgarischen und zu deutschen. Eine einzige Organisation machte sich die Mühe, mir zu antworten - und half Lizzy! Ich war überwältigt! Wir bereiteten Lizzy für ihre Ausreise nach Deutschland vor und dann war es so weit: Gechippt, geimpft, noch einmal entwurmt und entfloht und mit EU-Ausweis durfte sie ihre Fahrt nach Deutschland antreten. Ich war allerdings die “Böse”, die Lizzy in ihre Transportbox stecken musste - und sie wehrte sich mit allen Pfoten. Mir rannten die Tränen über das Gesicht, ich war untröstlich, mein Herz zersprang und ich fühlte mich wie ein Verräter - noch heute bekomme ich feuchte Augen und meine Kehle schnürt sich allein bei der Vorstellung dieses Augenblicks zu…
Es vergingen einige Tage, Wochen und ich versuchte wirklich, mich zu berappeln. Aber es half alles nichts, ich musste ununterbrochen an Lizzy denken, so dass ich mich bei der Tierschutzorganisation nach Lizzys neuem Besitzer erkundigte… Ich bekam die Anschrift, nach Rücksprache mit den Adoptanten, und setzte mich sofort an den Computer. Ich MUSSTE wissen, ob es ihr, meiner Lizzy, gut ging….
Aus dieser allerersten E-Mail entstand eine wundervolle Freundschaft, für die ich wirklich sehr dankbar bin! Lizzy, die ihr Leben in dem schönen Österreich bei der besten aller Familien verbringen durfte, wurden noch viele wundervolle Jahre geschenkt - die ihr hier in Bulgarien leider nicht vergönnt gewesen wären. Zu Recht trug sie den Namen Sissi und sie wurde von allen geliebt, denn ein edleres Herz, als das ihre, kann es nicht geben… Sissi hat den Stein ins Rollen gebracht - Sissi hat Enzo und mich geformt, hat in uns den Wunsch geweckt, noch vielen dieser wundervollen Seelchen auf der Straße zu helfen.
Wir haben in der Zwischenzeit viele Erfahrungen gemacht - machen müssen, schöne und nicht so schöne Erfahrungen; aber letztendlich resultiert genau daraus die “Best Friends Foundation”: “Frag nicht nach dem Sinn des Lebens - gib dem Leben einen Sinn!”